Nachtrag: Diskret sterben (2) – Das Leben feiern

Wieviel Intimität verträgt der Tod, das Sterben und das Leben? Welche Grenzen gibt es, sind sie theologisch oder kulturell bedingt?
Matthias Jungs Blogpost mit dem Link zu biglewinski.wordpress.com und Knut Dahls Hinweis auf das Video über Zion Isaiah Blick haben mich nachdenklich gemacht.
Zunächst, ich will über niemanden urteilen. Weder über Henning Mankell oder auch über die Beispiele, die Matthias Jung und Knut Dahl anführen.
Wenn jemand von Krankheit oder Tod bedroht ist, gehören ihm und seiner Familie Mitgefühl. Wenn er oder sie das Bedürfnis hat, sich mitzuteilen, so können sie die Form wählen, in der es geschieht. Wenn dies über Blogs oder soziale Netzwerke geschieht, kann ich für mich entscheiden, wieviel und was ich für mich wahrnehmen will.
Unter Big Lewinski bloggen Friederike und Alexander, die Eltern des einjährigen Levin, bei dem vor rund drei Wochen eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde. Als Grund für den öffentlichen Umgang mit der Krankheit ihres Sohnes schreiben sie:

Wir haben uns dafür entschieden, offen zu sein. Das hat den Vorteil, dass man uns wahrscheinlich Fragen wie ‘Gibt es Neuigkeiten?’ oder ‘Wie geht’s Euch?’ eher nicht stellt. Das ist für uns einer der möglichen gangbaren Wege, da er uns die Möglichkeit gibt, ein Gespräch zu suchen, ohne es ungewollt finden zu müssen.

Das Internet verändert unseren Umgang mit der Privatsphäre. Blogs und soziale Netzwerke stellen eine (Mikro-)Öffentlichkeit her, die es vorher so nicht gab. Wer möchte, kann sich ihrer bedienen. Früher konnte man über Mail und Newsletter informieren, deren Verteiler man zumindest in gewissem Maße kontrollieren kann. Wer bloggt, der macht seine Inhalte der Öffentlichkeit zugänglich. Er stellt diese zur Verfügung, die eigenen Netzwerkkontakte nehmen diese wahrscheinlich wahr, wen man darüber hinaus erreicht, ist schwer vorhersagbar und kontrollierbar.
Da ich aber nicht weiß, wer diese Personen außerhalb meines Freundeskreises sind – ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht – und deren Zahl überschaubar bleibt, sofern sich die Inhalte nicht viral verbreiten, nehme ich diese Mikro-Öffentlichkeit nicht als Überschreitung der Privatshpäre war. Anders wäre es vermutlich, wenn Massenmedien meine Inhalte aufgriffen und ich im Alltag von Fremden identifizierbar wäre, aber so erlebe ich durch die Veröffentlichung von Krankheit in Regel keine Überschreitung der Privatsphäre.
Krankheit in sozialen Netzen oder Im Blog öffentlich zu machen, ist daher eine Form des Umgangs mit dieser Krankheit. Wenn keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden, ist das Veröffentlichen die Entscheidung der Betroffenen.
Als Betrachter kann ich selbst entscheiden, inwieweit ich mich darauf einlassen will. Unter Umständen werden dadurch Betroffene in ähnlichen Situationen ermutigt –  sie vernetzten sich und drücken womöglich ihre Solidarität aus.
Mich hat das Lesen des Big-Lewinski-Blogs sehr berührt – bei mir kamen Erinnerungen hoch, wie wir als Eltern auf eine Diagnose gewartet haben. Was es für Eltern bedeutet, die Diagnose einer unheilbaren Krankheit des Kindes mitgeteilt zu bekommen, mag ich mir nicht vorstellen.
Ein Nebenaspekt: persönlich habe ich erlebt, dass Eltern auch unterschiedlich mit der Krankheit ihres Kindes umgehen. Empfindungen laufen nicht synchron. Wenn man diese Empfindungen jedoch öffentlich macht, kommt man schlecht dahinter diese zurück. Ein öffentliches Blog birgt daher auch Konfliktpotenzial zwischen den Elternteilen. Jede Familie muss wissen, wie sie damit umgeht.
Ich habe mich durch das Big-Lewinski-Blog geklickt, ich bin angerührt und betroffen. Die Bilder und Texte sind persönlich und zeigen Respekt, sind in diesem Sinne auch diskret.
Diesen Respekt finde ich auch im Video über Zion Isaiah Blick.

Seine Eltern Josh and Robbyn Blick – der Vater ist Pastor der Alpine Chapel – erfuhren in der 20. Schwangerschaftswoche, dass ihr noch ungeborerer Sohn Trisomy 18 hat.  Diese Trisonomie führt bei vielen Schwangerschaften zu Fehlgeburten. Die Hälfte der Kinder stirbt während der ersten Woche nach der Geburt, acht Prozent der Kinder erleben den ersten Geburtstag, nur ein Prozent den zehnten. Die Eltern entschließen sich, die Schwangeschaft auszutragen in dem Wissen, dass ihr Sohn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bald nach der Geburt sterben wird. Um sein Leben festzuhalten, fotografieren sie ihn und drehen ein Film über sein Leben. Die Qualität der Bilder und der Films lässt vermuten, dass sich die Eltern professioneller Hilfe bedient haben. Herausgekommen ist ein sechs minütiger Film über die zehn Tage, die Zion Isaiah mit seiner Familie gelebt hat. Wüsste man nicht, dass Zion nur zehn Tage gelebt hat, könnte man sich einfach an den gelungenen Babyfotos freuen, aber so mischt sich zu den Fotos Nachdenklichkeit und Traurigkeit. Der Tod wird nicht gezeigt, der Film ist eine Feier seines Lebens, wie jemand als Kommentar unter das Video schreibt. Ein anderer kommentiert, es komme nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität eines Lebens an. Im Wissen um die Flüchtigkeit des Lebens ihres Sohnes haben die Eltern versucht, das Leben ihres Sohnes festzuhalten und über Online-Dienste wie Vimeo und Instagram zu teilen. Trotz oder wegen seines Todes ist der Film ein Plädoyer für das Leben, der sich viral nun im Internet und auch in Massenmedien verbreitet hat: http://www.viralnova.com/baby-boy-alive-10-days.
Was heißt dies für Diskretion und Respekt im Umgang mit Krankheit und Tod? Hier ist sicherlich auch eine kulturelle Komponente zu bedenken. Persönliche Krisen- und Wendepunkte werden in Deutschland viel eher als privat eingestuft als beispielsweise in den USA, wo ein fester Bestandteil des Gottesdienstes das „pastoral prayer“ ist, in dem für einzelne Gemeindeglieder in Krankheit und Notlagen namentlich gebetet wird.
Die Umgang mit dem Tod hat sich ebenfalls in unserer Kultur verändert. Der Tod als solcher wurde mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verdrängt und ins Private verlagert. Nur noch wenige Menschen tragen Trauer und erinnern so innerhalb eines Trauerjahres ihre Mitmenschen durch ihre Kleidung an den Tod eines nahen Menschen.
Wie verändert sich unsere Trauerkultur. Die Totenwaschung und das Herrichten eines oder einer Verstorbenen ist ein Zeichen des Respekts und der Würde, die auch dem toten Menschen gilt. Bevor andere Menschen, die nicht beim Sterben dabei waren, die Tote oder den Toten sehen, wird er hergerichtet, um seine Intimsphäre zu schützen oder wiederherzustellen.
Auch in den Medien gibt es den Konsens, durch Tod entstellte Menschen nicht öffentlich zu zeigen.
Wie tief muss der Schmerz sein und wie sehr sind kulturelle Normen verlorengegangen, zeigt sich an Bildern von so genannten Sternenkindern, Kinder, die tot geboren wurden oder bei der Geburt verstorben sind. Von Sternenkindern finden sich oft Bilder, die ungeschminkt die Umittelbarkeit des Todes zeigen. (Jeder soll überlegen, ob er auf http://www.gedenkseiten.de/geliebtes-sternen-kind-kevin/bilder klicken möchte). Sie zeigen den Schmerz der Eltern, aber auch, dass kein Bewusstsein mehr für Intimsphäre und keine Zeit und Kraft zur Reflektion da ist. Eltern und Betrachter verharren in der Unmittelbarkeit des Schmerzes, der Tod ist ungeschminkt sichtbar.
Bei Zion Isaiah Blick wird der Tod nicht gezeigt, sondern sein Leben gefeiert, im Bewusstsein, dass er zu früh gestorben ist.
Was privat ist und was öffentlich ist, ändert sich, was Menschenwürde und Respekt im Zeitalter sozialer Netze ist, müssen wir jedoch neu lernen, wir brauchen eine Kultur, mit dem Tod umzugehen.

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3 Antworten zu “Nachtrag: Diskret sterben (2) – Das Leben feiern”

  1. […] Was ist öffentlich, was ist privat? Das Internet verändert uns alle. Was für manche auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag, ist beim zweiten Hinsehen nicht mehr verstörend, sondern berührend. Es gibt sowohl Fotos von Sterbenden und Toten, die eine Intimsphäre verletzten, aber es finden sich Blogs auch (z.B. https://biglewinski.wordpress.com) und Vimeo-Videos (z.B. über Zion Isaiah Blick), in denen Eltern vom Sterben ihrer Kinder in solch einer respektvollen Weise erzählen, dass sie das Leben preisen – und in deren Beiträgen eine Hoffnung über den Tod hinaus mitschwingt. […]

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