#RefugeesWelcome – aber leider nicht in unseren Predigten

Zugegeben, es ist nur eine Momentaufnahme und keine wissenschaftliche Analyse, aber erschrocken bin ich schon.
Dieses Sonntag darf bin ich wieder predigen. Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer den vorgeschlagenen Predigttext gewählt, mich der Aufgabe gestellt, auch sperrige Texte für unseren Kontext auszulegen.
Für morgen (13.9.2015 15. Sonntag nach Trinitatis) ist als Evangelium und Predigttext Matthäus 6,24-34 vorgeschlagen:

Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. (Vers 25)

Ob in der Zeitung, im Fernsehen, im Internet: Bilder von Flüchtlingen. Menschen, die sich auf der Flucht in Lebensgefahr begeben. In seeuntüchtigen Boten auf dem Mittelmeer. Manche schaffen es nicht bis an die Küste. Das Foto eines toten Kindes am Strand gab dem Flüchtlingselend einen Namen: Aylan, der dreijährige Junge war mit seiner Familie aus dem syrischen Kobane geflohen. Er ertrank auf der Flucht und wurde tot an die türkische Küste gespült. Andere Flüchtlinge haben es bis zu den Außengrenzen der europäischen Union geschafft, nun lagern sie in Zelten, die Temperaturen sind bereits herbstlich kühl und die Menschen haben keine angemessene Kleidung.
Wie können wir angesichts dieser Bilder über den Predigttext sprechen? Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg oder Hunger fliehen. Die ihr Leben riskieren, um das Leben ihrer Angehörigen bangen. Die nicht wissen, wo sie bleiben werden. Auf diese Menschen den Predigttext zu beziehen, wäre zynisch.
Ich war drauf und dran, einen anderen Text zu wählen.

„Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“
( 2. Mose 22,20)

— und dazu die Motive von www.fremdling.eu. Die Predigt wäre (fast) fertig gewesen.
Ich habe dann nochmals versucht, einen Zugang zum Predigttext zu bekommen
Diese Woche war ich auf der Schulpflegschaftssitzung in der Schule unserer beiden ältesten Töchter. Die Schule nimmt Flüchtlingskinder auf – sie besuchen Regelklassen und erhalten zusätzlichen Deutsch-Unterricht. Niemand weiß, wie viele Kinder in den nächsten Wochen hinzukommen werden. Schon jetzt herrscht an der Schule Lehrermangel. Allen – Eltern und Schulleitung – war klar, dass die Situation nicht planbar ist. Anstatt auf das Morgen zu schauen, richteten alle den Blick auf das Hier und Jetzt. Was können wir tun, um den Kindern, die jetzt schon auf der Schule sind, zu helfen? Die Frage an die Eltern: wer hat Unterrichtserfahrung und kann eventuell ehrenamtlich die Lehrkräfte unterstützen? Also: das tun, was notwendig ist, und nicht sich darum sorgen, dass eventuell jemand im Deutsch-Unterricht aushilft, der keine Zusatzausbildung mit Zertifikat „Deutsch als Fremdsprache” hat. Ob Schule oder Bauvorschriften: vor lauter Sorgen und Planen können wir das Wesentliche vergessen: Menschen Zuflucht gewähren, die als Flüchtling in unserem Land ankommen.
So kann ich den Predigttext dann doch für eine Predigt verwenden, wenn ich ihn so lese.

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

Für mich ist zurzeit der Umgang mit Flüchtlingen das wichtigste Thema, die Nachrichten berichten darüber, aber ich begegne auch Flüchtlingen auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof, die versuchen, einen Anschlusszug zu finden. Sportunterricht muss verlegt werden, weil die Turnhalle in der Nachbarschaft mit Flüchtlingen belegt ist – und Menschen ihre Kleiderschränke durchgehen und Kleidersäcke bei der örtlichen Flüchtlingsinitative abgeben. Wenn ich joggen gehe, grüßen mich abend Flüchtlinge mit einem Kopfnicken oder Hallo vor der Turnhalle.
Für mich ist der Umgang mit Flüchtlingen das Thema, wie Glaube und Alltag sich treffen. Nachdem meine Predigt nun doch fertig war, wollte ich wissen, wie andere Kolleginnen und Kollegen das Thema aufgreifen und war erschrocken. Das Thema Flüchtlinge kam bei den beiden Predigt-Websites, die ich zuerst konsultierte, überhaupt nicht vor:
predigten.evangelisch.de
Keine Predigt erwähnt das Thema Flüchtlinge:

predigten.de
Keine Predigt erwähnt das Thema Flüchtlinge:

Ich ging weitere Online-Predigten durch, denn ich wollte es nicht glauben, dass keine Predigt den Predigttext auf die aktuelle Lage und den Umgang mit Flüchtlingen bezieht. Fündig (wenn auch in eingeschränktem Maße) wurde ich dann bei der dritten Website:
www.predigten.uni-goettingen.de

Das ist keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine recht zufällige Momentaufnahme, aber überrascht und erschrocken bin ich schon, dass der Umgang mit Flüchtlinge keine große Rolle auf evangelischen Kanzeln zu spielen scheint. Man mag einwenden, dass die Predigten auch Vorlauf haben, bevor sie online gehen, aber Flüchtlinge sind nicht erst seit dieser Woche Thema.
#Refugeeswelcome mag ein trending topic auf Twitter sein, auf protestantischen Kanzeln scheint es jedoch nicht zu den Top-Themen zu zählen.

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5 Antworten zu “#RefugeesWelcome – aber leider nicht in unseren Predigten”

  1. Ich hoffe und wünsche mir, dass ich mit meiner Analyse falsch liege.
    Der Blogpost wurde auch in der (geschlossenen) FB-Gruppe Zentrum für evangelische Predigtkultur geteilt. Dort hat gerade eine Kollegin diese Predigt verlinkt:
    https://word.office.live.com/wv/WordView.aspx?FBsrc=https%3A%2F%2Fwww.facebook.com%2Fattachments%2Ffile_preview.php%3Fid%3D970892089634468%26time%3D1442094156%26metadata&access_token=553593410%3AAVJBd3EaOMRdnSQe-lQ-DUhQvIjIXzXT13cDnplaNB4rFw&title=Predigt+zu+Mt+6%2C25ff.doc
    Also doch in einigen Predigten: #RefugeesWelcome

  2. Vielleicht haben die \“anderen\“ schon über das Thema Flüchtlinge gepredigt ?! Jeden Sonntag bietet sich ja nun auch nicht an. Daher verstehe ich nicht ganz die Aufregung in diesem artikel

  3. vielleicht ging es den Kollegen so wie mir und sie haben auch schon die 2 Sonntage vorher über die Flüchtlingsthematik gesprochen? Ich hab mich dann gestern auch für eine andere Predigt entschieden, denn meine Gemeinde hat schon auch noch andere Sorgen neben den Flüchtlingen.

  4. Ich war im alt-katholischen Gottesdienst, da war Predigttext Jakobus (Glaube ohne Werke ist tot) und da hat es mich ECHT geschockt, dass der Priester mit keinem Wort auf Flüchtlinge einging. In München. Wo an dem WE 40000 angekommen waren und zig ehrenamtliche Helfer im Einsatz.

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